Interview mit Ludovic Montécot
Wo sie Einzug hält, bleibt kein Stein mehr auf dem anderen: Die Digitalisierung revolutioniert Prozesse im Einkauf. Was genau das bedeutet, welche Prozesse verschlankt oder automatisiert werden und ob auch „analoge“ Einkäufer langfristig überleben können, verrät Kloepfel Senior Manager Ludovic Montécot im Interview.
Im Großen und Ganzen: Was bedeutet die Digitalisierung im Einkauf?
In der Praxis bedeutet sie: ineffiziente Prozesse im Einkauf zu optimieren, indem man digitale Werkzeuge oder technische Mittel benutzt, die einem das Leben einfacher machen. Unter „Ineffizienz“ ist zum Beispiel zu verstehen: Die manuelle Erfassung von Daten. Das ist heutzutage vollkommen überflüssig, weil man viele Werte von einem System in ein anderes übertragen kann, ohne sie selbst kopieren zu müssen. Selbst manuelle Dokumente lassen sich mühelos einscannen, die relevanten Daten werden dann automatisiert erfasst und in verschiedene Module des ERP-Systems übertragen.
Ein weiteres Beispiel ist die Lieferantenrecherche. Da musste man früher mit dem Telefonbuch, verstreuten Visitenkarten, dem Rolodex oder eben Networking arbeiten. Oder man fragte eben seine Kontakte: „Kennst Du jemanden, der zuverlässig dies oder jenes liefert?“ Das ist heute schwer vorstellbar: Durch digitale Plattformen lassen sich schnell, effektiv und vor allem global potenzielle Lieferanten recherchieren. Eine Ausschreibung lässt sich dann wiederum vollkommen strukturiert und weitgehend automatisiert vornehmen – im Corporate Design des ausschreibenden Unternehmens! Früher lief das alles noch über Preisanfragen per Fax oder händisch verschickte E-Mails.
Und nicht zuletzt lässt sich auch bei der Lieferantenauswahl und -beauftragung die Prozesse optimieren: Verträge werden automatisch auf bestimmte Stichworte und Parameter geprüft. Auch hier musste früher mühevoll händisch vorgearbeitet werden – und wird es in vielen Rechts- oder Einkaufabteilungen heute noch.
Was machen Einkäufer durch die Digitalisierung anders als bspw. noch vor 10 oder 20 Jahren?
Die Workflows wurden vollkommen auf den Kopf gestellt. Es ist nicht ungewöhnlich, dass Lieferverträge und andere eingehende Dokumente zur Freigabe verschiedene Abteilungen und Hierarchien durchlaufen. Das lief früher entweder auf dem Fuß- und Postweg – oder mit der Rohrpost. Heutzutage gibt es den Dokumentenupload in die Cloud und jeder kann markieren, dass er gesichtet und freigegeben hat. So bekommt etwa die Buchhaltung eine Rechnung per Post und kann sie nach Scan auf Knopfdruck zur Prüfung und Freigabe verteilen.
Bei der Aussendung von Dokumenten hilft die Digitalisierung ebenso weiter. Wenn Spezifikationen, technische Zeichnungen für Ausschreibungen an Lieferanten übermittelt werden sollen, geht auch das viel einfacher über die Cloud als über E-Mails oder per Post.
Auch die Analyse- und Veranschaulichungsmöglichkeiten haben sich stark geändert. Früher war man froh, wenn man im Meeting mit dem Chef ein kleines Diagramm zeigen konnte. Heute lassen sich aussagekräftige Diagramme für Reports zu jedem Zeitpunkt per Knopfdruck erstellen – und das einheitlich über verschiedene Mitarbeiter hinweg, so dass sich eine Vergleichbarkeit ergibt. Wenn man dann einem Kollegen etwas darstellen will, geht das auch mal schnell, wenn er einem über die Schulter schaut. Und der Chef bekommt Kennzahlen im immer gleichen Format aufgezeigt, eventuell auch laufend über ein Dashboard.
Die Lieferantenarbeit im Sinne der Kommunikation hat sich auch klar durch Webmeetings verändert – die sind zwar noch immer nicht der direkte Kontakt Face-to-Face, aber ein Quantensprung gegenüber dem Telefonat. Man sieht, wie der andere gekleidet ist, wie er gestikuliert, die Mimik, und natürlich bindet es auch Aufmerksamkeit, denn wer weiß, was manche Leute sonst nebenher am Telefon machen? Das alles ist für Verhandlungen, aber auch für den alltäglichen Kontakterhalt sehr hilfreich und ein guter Mittelweg zwischen Telefonat und persönlichem Gespräch.
Verläuft die Digitalisierung des Einkaufs in allen Unternehmen vergleichbar oder gibt es unterschiedliche Strategien?
Zunächst einmal muss man festhalten, dass sich die Strategien um das verfügbare Budget herumdrehen und sich entsprechend unterscheiden. Die Digitalisierung ist nicht überall Priorität 1. Hinzu kommt, dass viele Unternehmen gar nicht wahrnehmen, dass der Einkauf auf keinem angemessenen Digitalisierungsstand ist: Sie arbeiten ohne Cloud und denken, dass Telefon, E-Mail und eventuell sogar Fax doch reichen würden. Die Corona-Pandemie hat hier Einkaufsleiter und Geschäftsführer vor zwei widersprüchliche Tatsachen gestellt.
Erstens hat sie veranschaulicht, dass der digitale Reifegrad ungenügend ist, wenn nicht einmal die Voraussetzungen für Webmeetings mit Lieferanten geschaffen wurden. Zweitens gab es für viele Unternehmer ein finanzielles Risiko, so dass sie nicht bereit waren, nachhaltig in digitale Werkzeuge zu investieren. Dabei hat Corona eigentlich gezeigt, dass Digitalisierung krisenfester macht. Dennoch beobachten wir auch teilweise bei Kunden, dass sie über keine Cloudlösung und keine digitale Infrastruktur zur Informationsverteilung sowie -transparenz verfügen.
Wird Digitalisierung im Einkauf isoliert vorangetrieben oder als Teil einer größeren Digitalisierungsstrategie des Unternehmens?
Wir haben in Projekten häufig erlebt, dass der Einkauf seinen Digitalisierungsschub auf eigene Faust startet und damit andere Abteilungen ansteckt. Als ich selbst Einkaufsleiter bei einem börsennotierten Unternehmen für Verbindungstechnik in Maintal war, haben wir zunächst mit verstreuten Tools je nach Aufgabenbereich gearbeitet. Bis wir irgendwann beschlossen haben, ein einheitliches Supplier Relationship Management (SRM) über Microsoft Dynamics einzuführen. Hier war alles, was Lieferantenbeziehungen betraf, vereinheitlicht integriert: Anfragen, Katalogeinkäufe, Vertragsdokumente, Spend Management. Dafür haben wir viel Geld ausgegeben, aber danach waren wir auf einem angenehmen Stand, der etliche Arbeitsstunden sparte und so die Investition schnell amortisierte. Andere Abteilungen sahen plötzlich die Effizienz und kamen auf uns zu, um Zugriff auf einzelne Module zu erhalten. Unser Verkauf konnte etwa durch Einblick in unsere ERFQs (elektronische Lieferantenanfragen) nachvollziehen, ob wir auch alle Standards, die von unseren Kunden vorgegeben wurden, gemäß IATF 16949 einhielten. Die waren begeistert von der Transparenz! Was wir auch getan haben, war das CRM und SRM miteinander zu verknüpfen. Das geht ganz einfach, aber kaum ein Unternehmen macht es. Leider spiele hier auch oft Abteilungssilos eine Rolle.
Wie sieht die derzeit „perfekt“ digitalisierte Einkaufsabteilung aus? Lässt sich ein „digitaler Reifegrad“ einer Einkaufsabteilung bestimmen?
Grundsätzlich lassen sich selbstverständlich Digitalisierungsgrade definieren, anhand von laufend aktualisierten Faktoren, die erhoben werden. Dafür gibt es beispielsweise den Digitalen Transformationsindex. Inwieweit das Sinn für einzelne Einkaufsabteilungen ergibt, bleibt aber zu hinterfragen. Denn für einen eher kleinen Betrieb mit nur einem Standort und wenigen Mitarbeitern ergibt ein voll ausgeprägtes SRM wenig Sinn, das wäre überdimensioniert. Hier würde es nichts bringen, einen geringen Digitalisierungsgrad zu attestieren. Wenn überhaupt, müsste man zunächst die relativen Anforderungen des Unternehmens betrachten und im zweiten Schritt schauen, wie weit man vom Ziel entfernt ist, das zu seiner Einkaufsabteilung passt. So weiß man dann auch, welcher Grad der Digitalisierung sie zur „perfekt“ digitalisierten Abteilung machen würde.
Dennoch lassen sich Bereiche festhalten, an denen der Fortschritt der Digitalisierung festzumachen ist, namentlich Toolset, Skillset und Mindset. Toolset bedeutet, dass dem Einkaufspersonal alles an Infrastruktur, das heißt Hardware und Software, zur Verfügung steht, um an der Digitalisierung zu partizipieren. Beispielsweise Smartphones, Laptops, Scanner, Webcams, auf der Hardwareseite, aber auch VPN, Cloud-Speicher, Softwarelizenzen und eine solide Einrichtung der IT-Infrastruktur auf der anderen Seite. Das Skillset unterdessen drückt aus, dass sie auch in der Lage sind, die verschiedenen Tools, Plattformen und neuen Möglichkeiten zu nutzen, weil sie die Funktionen kennen und zu bedienen wissen. Tool- und Skillset helfen aber nichts, wenn das Mindset nicht stimmt: Die Bereitschaft, Neues zu lernen und sich im Digitalen zurechtzufinden.
Welche Vorteile bringt die Digitalisierung des Einkaufs?
Insgesamt eine große Transparenz und Zeitersparnis, die der Einkauf dann in andere Bereiche investieren kann. Je weniger Einkäufer durch operatives Klein-klein gebunden sind, umso mehr können sie sich auf strategische Aufgaben konzentrieren, ihr Lieferantennetzwerk pflegen, ihr Risikomanagement verbessern etc. Dabei ist zu beobachten, dass sich viele Einkaufsprozesse gleichzeitig digitalisieren lassenwas wiederum Synergien schafft: Dazu gehören Bedarfsanalyse, Marktanalyse, Strategiebestimmung und -implementierung.
Muss der Einkauf überhaupt digitalisiert werden oder kommt man heutzutage noch als „analoger Einkäufer“ zurecht?
Wir sind in einer Umbruchsphase und ja, noch kommt man auch „analog“ zurecht. Es stellen sich aber zwei Fragen. Erstens: Zu welchem Preis? Und zweiten: Wie lange noch? Denn es gibt viele Einkäufer, die nicht einmal wissen, wie Excel effizient funktioniert. Auch sie kommen zurecht, aber natürlich viel langsamer – und damit teurer. Dabei gibt es einen hohen Effizienzdruck, allein schon im Wettbewerb mit China. In zehn Jahren wird die Welt eine andere sein, und sie wird sich garantiert nicht langsamer drehen – wer heute nicht dazulernt, ist dann schnell aus dem Rennen.
Welche Herausforderungen stellen sich dabei, den Einkauf zu digitalisieren?
Oft ist die Datenbasis ein massives Problem. Denn ohne eine gute Datenlage lässt sich nichts automatisieren. Im Gegenteil: Wenn schlechte Daten eingespeist werden, kommt am Ende nichts Nützliches heraus. Eine weitere Herausforderung ist die Einführung digitaler Möglichkeiten selbst, Systeme wollen ja sauber eingeführt sein. Derweil fordert die Einkäufer selbstverständlich trotzdem weiterhin das Tagesgeschäft. Für die Produktion gilt etwa stets die Priorität: Die Teile müssen auf das Band! Daneben die Kapazitäten zur Digitalisierung zu schaffen, ist wie bei jedem Projekt eine Herausforderung. Natürlich sind auch gerade das Fälle, in denen Kunden auf unsere Hilfe und Beratung zurückgreifen. Das Tagesgeschäft ist dadurch eine umso größere Herausforderung, dass es oft ineffizient gelebt wird. Wir helfen, diesen Kreis zu durchbrechen.
Ansonsten muss klar sein, dass ein isolierter Vormarsch des Einkaufs zwar möglich ist, es aber absolut sinnvoll ist, wenn die Digitalisierung von der Geschäftsführung zur Chefsache erklärt und in sämtlichen Abteilungen gelebt wird. Ansonsten liegt natürlich eine große Herausforderung im genannten Triumvirat aus Toolset, Skillset und Mindset – die Mitarbeiter müssen gut ausgestattet und qualifiziert werden.
Kommen mit diesen Herausforderungen alle Einkäufer gleich gut zurecht?
Die Digitalisierung ist ja nur ein Teilaspekt des Einkaufs im Wandel. Bei vielen „alten Hasen“ ist noch die Vorstellung vom Einkäufer als reinem Bestellabwickler verankert. Dabei können und müssen Einkäufer heutzutage eine Schlüsselrolle im Unternehmen einnehmen – die derzeitige Verknappungssituation verschiedenster Materialien zeigt doch, dass es mit „Bestellknopf drücken“ nicht getan ist. Wer jetzt keine Beschaffungskompetenz und ein belastbares Lieferantennetzwerk mitbringt, hat eventuell den Produktionsstillstand zu verantworten! Wer es hingegen aktuell schafft, den Kollegen im Aufschwung trotz Marktverknappung Ausgangsmaterial zu liefern, kann zum Retter und Helden im Unternehmen avancieren.
Das Mindset muss also stimmen, und wer ohne Digitalisierung aufgewachsen und in alten Prozessen verhaftet ist, kommt entsprechend schlechter zurecht. Der Nachwuchs besteht häufig aus gut ausgebildeten „Digitale Natives“, die sich im Zeitalter von Big Data schnell in eine neue Software einarbeiten und im Cloud-Umfeld bestens zurechtfinden. Sie sind mit dem digitalen Mindset aufgewachsen! Der Nachwuchs ist sofort dabei und versteht, worum es geht: mehr Zeit für andere Aufgaben. Damit „alte Hasen“ am Ball bleiben, müssen sie Initiative zeigen und Fortbildungen erhalten. Dann werden die Älteren auch erkennen, dass die Digitalisierung keine Raketenforschung ist.
Anders wird es nicht gehen, denn auf lange Sicht bewegt sich die Einkaufswelt zu neuen Ufern. Wer sich da lieber zurücklehnt, anstatt schwimmen zu lernen, wird ertrinken, wenn er vom Fortschritt ins Wasser geschubst wird.
Herr Montécot, wir danken für das Gespräch!
Kontakt:
Christopher Willson
Kloepfel Group
Tel.: 0211 875 453 23
Pempelforter Str. 50
40211 Duesseldorf
Mail: rendite@kloepfel-consulting.com